Sonntag, 8. April 2012

MARWAN BARGHOUTI - Palästinas Mandela



Marwan Barghouti hat offenbar Charisma. Er hat offenbar die Fähigkeit, alle Palästinenser zu einen. Das ist gut und notwendig. Und was er sagt, das hat Hand und Fuß. In einem Punkt bin ich skeptisch. Die Zwei-Staaten-Lösung. Das ist doch die Musik, nach der jetzt über 60 Jahre ein Affentheater aufgeführt wurde. Wichtige Persönlichkeiten sind einen Schritt weiter gegangen: EIN DEMOKRATISCHER STAAT FÜR ALLE. Da würden die Israelis im Glanz ihrer Nacktheit dastehen: Zwei Staaten haben sie 60 Jahre lang abgelehnt, einen Staat lehnen sie ab und Demokratie lehnen sie auch ab.
Und ideal wäre, würden die Palästinenser Barghouti bei den nächsten Wahlen aufstellen. Das würde die Israelis erst recht zum Tanzen bringen.

Uri Avnery
31. März 2012

Maran Barghouti nimmt kein Blatt vor den Mund. Nach langem Schweigen sandte er eine Botschaft aus dem Gefängnis.

Für israelische Ohren klingt diese Botschaft nicht angenehm. Aber für die Palästinenser und für die Araber im Allgemeinen ist sie logisch.

Seine Botschaft könnte nun das neue Programm der palästinensischen Befreiungsbewegung werden.

Ich traf Marwan erstmals während der Euphorie des Nach-Oslo-Optimismus. Er war als Führer einer neuen palästinensischen Generation aufgetaucht, der einheimischen jungen Aktivisten, Männer und Frauen, die während der 1. Intifada herangereift war.

Er ist ein Mann von kleiner Statur und großer Persönlichkeit. Als ich ihn traf, war er schon der Führer der Tansim („Organisation“), der Jugendgruppe der Fatahbewegung.

Unser Gesprächsthema damals war die Organisation von Demonstrationen und anderer gewaltfreier Aktionen, die sich auf enge Kooperation zwischen den palästinensischen und israelischen Friedensgruppen gründeten. Das Ziel war Frieden zwischen Israel und einem neuen Staat Palästina.

Als der Oslo-Prozess mit der Ermordung von Yitzhak Rabin und Yasser Arafat starb, wurden Marwan und seine Organisation von aufeinander folgenden israelischen Führern – Ariel Sharon, Binjamin Netanjahu und Ehud Barak – die entschieden, der Zwei-Staaten-Agenda ein Ende zu bereiten. In der brutalen „Defensive-Shield“-Operation (angefangen vom damaligen Verteidigungsminister Shaul Mofaz, jetzt der neue Führer der Kadima-Partei) wurde die palästinensische Behörde angegriffen, ihre Ministerien zerstört und viele ihrer Aktivisten verhaftet.

Marwan Barghouti wurde unter Anklage gestellt. Es wurde behauptet, er sei als Führer der Tansim verantwortlich für mehrere „terroristische“ Angriffe in Israel. Seine Gerichtsverhandlung war eine Farce und erinnerte mehr an eine römische Gladiatoren-Arena als an eine Gerichtsverhandlung. Der Saal war voll brüllender Rechter, die sich selbst als „Opfer des Terrorismus“ darstellten. Mitglieder von Gush Shalom protestierten gegen diese Verhandlung innerhalb des Gerichtsgebäudes, wurden aber nicht in die Nähe des Angeklagten gelassen.

Marwan wurde zu fünfmal lebenslänglich verurteilt. Das Bild von ihm mit den über seinem Kopf erhobenen gefesselten Händen wurde zu einer palästinensischen Nationalikone. Als ich seine Familie in Ramallah besuchte, hing dieses Bild im Wohnzimmer.

Im Gefängnis wurde Marwan Barghouti sofort als Führer aller Fatahgefangenen anerkannt. Er wird auch von den Hamasaktivisten respektiert. Die gefangenen Führer von Fatah und Hamas veröffentlichten mehrere Statements, die die Palästinenser zur Einigkeit und Versöhnung aufriefen. Diese wurden außerhalb des Gefängnisses weit verbreitet und mit Bewunderung und Respekt empfangen.

(Mitglieder der Großfamilie Barghouti spielen übrigens in palästinensischen Angelegenheiten - von moderaten bis extremen - eine größere Rolle. Einer von ihnen ist Dr. Mustafa Barghouti, ein Arzt, der eine moderate palästinensische Partei mit vielen Kontakten zum Ausland leitet, und den ich regelmäßig bei Demonstrationen in Bilin oder anderswo traf. Einmal scherzte ich, dass wir immer weinen, wenn wir uns begegnen – wegen des Tränengases. Die Familie hat ihre Wurzeln in einer Gruppe von Dörfern nördlich von Jerusalem.)

Heute wird Marwan Barghouti als zukünftiger Führer von Fatah und als Präsident der Palästinensischen Behörde nach Mahmoud Abbas angesehen. Er ist einer der sehr wenigen Persönlichkeiten, der alle Palästinenser, Fatah wie auch Hamas, vereinigen könnte.

Nach der Gefangennahme des israelischen Soldaten Gilad Shalit, als der Gefangenen-Austausch diskutiert wurde, setzte Hamas Marwan Bargouti an die erste Stelle der Liste der palästinensischen Gefangenen, deren Entlassung gefordert wurde. Dies war eine sehr ungewöhnliche Geste, da Marwan zu der rivalisierenden – und geschmähten – Fraktion gehörte.

Die israelische Regierung strich Marwan sofort von der Liste und blieb unnachgiebig. Als Shalit schließlich entlassen wurde, blieb Marwan im Gefängnis. Offensichtlich wurde er als gefährlicher angesehen als Hunderte von Hamas-Terroristen mit „Blut an ihren Händen“.

Warum?

Zyniker würden sagen: weil er Frieden wünscht. Weil er an der Zwei-Staaten-Lösung festhält.
Weil er das palästinensische Volk zu diesem Zwecke einigen könnte. Alles gute Gründe dafür, dass Netanjahu ihn im Gefängnis festhält.

Was sagte Marwan seinem Volk in dieser Woche?

Klar, seine Haltung ist härter geworden. Wie vermutlich auch die Haltung des palästinensischen Volkes insgesamt.

Er ruft zu einer 3. Intifada auf, einem gewaltlosen Massenaufstand im Geist des arabischen Frühlings.

Sein Manifest ist eine klare Ablehnung der Politik von Mahmoud Abbas, der eine eingeschränkte, aber sehr bedeutende Zusammenarbeit mit den israelischen Besatzungsbehörden pflegt. Marwan ruft zu einem völligen Bruch aller Arten von Zusammenarbeit auf, sei es auf wirtschaftlichen, militärischen oder anderen Gebieten.

Ein Hauptpunkt dieser Zusammenarbeit ist die tägliche Kollaboration der von Amerikanern ausgebildeten palästinensischen Sicherheitsdienste mit den israelischen Besatzungskräften.
Diese Vereinbarung hat gewalttätige palästinensische Angriffe in den besetzten Gebieten und in Israel selbst wirksam gestoppt. Dies garantiert praktisch die Sicherheit der wachsenden israelischen Siedlungen in der Westbank.

Marwan ruft auch zu einem totalen Boykott Israels, israelischer Institutionen und Produkte in den palästinensischen Gebieten und in aller Welt auf. Die israelischen Produkte sollten aus den Läden der Westbank verschwinden, palästinensische Produkte sollten gefördert werden.

Gleichzeitig befürwortet Marwan ein offizielles Ende der Scharlatanerie, die „Friedensverhandlungen“ heißt. Dieser Terminus wird übrigens in Israel nicht mehr gehört. Zunächst wurde er durch „Friedensprozess“ ersetzt, dann durch „politischer Prozess“ und zuletzt durch „politische Sache“. Das einfache Wort „Frieden“ ist unter den Rechten und den meisten Linken zu einem Tabu-Wort geworden. Es ist politisches Gift.

Marwan schlägt vor, das Nicht-Vorhanden-sein von Friedensverhandlungen offiziell zu machen. Keine internationalen Gespräche über die „Wiederbelebung des Friedensprozesses“, kein Herumhasten lächerlicher Leute wie Tony Blair, keine nichtssagenden Ankündigungen von Hillary Clinton und Catherine Ashton, keine leeren Erklärungen des „Quartetts“. Da die israelische Regierung klar die Zwei-Staaten-Lösung aufgegeben hat – falls sie sie wirklich jemals akzeptiert hat – den Vorwand aber aufrecht erhält, fügt diese Heuchelei dem palästinensischen Kampf nur Schaden zu.

Anstelle dieser Heuchelei schlägt Marwan vor, die Schlacht in der UNO zu erneuern. Zunächst noch einmal den Sicherheitsrat anzurufen, um Palästina als einen Mitgliedsstaat anzuerkennen und so die USA herauszufordern, ihr einsames Veto praktisch offen gegen die ganze Welt zu setzen. Nach der erwarteten Zurückweisung des palästinensischen Antrages durch den UN -Sicherheitsrat als Ergebnis des Veto, eine Vollversammlung fordern, wo die große Mehrheit zugunsten Palästinas stimmen würde. Obwohl das nicht bindend wäre, würde es demonstrieren, dass die Freiheit Palästinas die überwältigende Unterstützung der Familie der Nationen hätte, und es würde Israel (und die USA) noch mehr isolieren.

Parallel zu diesem Aktionskurs besteht Marwan auf palästinensischer Einheit und nützt seine beträchtliche moralische Kraft aus, um Fatah und Hamas unter Druck zu setzen.
Zusammenfassend hat Marwan Barghouti alle Hoffnung aufgegeben, die palästinensische Freiheit durch Zusammenarbeit mit Israel zu erreichen oder selbst mit Israels Oppositionskräften. Die israelische Friedensbewegung wird nicht mehr erwähnt. „Normalisierung“ ist zu einem Schimpfwort geworden.

All diese Ideen sind nicht neu. Aber wenn dies vom palästinensischen Gefangenen Nr. 1 kommt, dem wichtigsten Kandidaten für die Nachfolge von Mahmoud Abbas, dem Helden der palästinensischen Massen, so bedeutet dies ein Wandel zu einem militanteren Kurs, in der Substanz und im Ton.

Marwan bleibt friedensorientiert – wie er es bei einem der seltenen Auftritte vor Gericht kürzlich deutlich gemacht hat: er rief den israelischen Journalisten zu, dass er weiter die Zwei-Staaten-Lösung unterstütze. Er bleibe auch bei gewaltloser Aktion, nachdem er zu der Schlussfolgerung gekommen sei, dass die gewalttätigen Angriffe der vergangenen Jahre der palästinensischen Sache nur geschadet habe, statt sie zu fördern.

Er möchte zu einem Stopp des allmählichen und unfreiwilligen Abgleitens der palästinensischen Behörde in eine Vichy-artige Kollaboration aufrufen, während die Ausdehnung des israelischen Siedlungsunternehmens ungestört weitergeht.

Nicht zufällig veröffentlichte Marwan sein Manifest am Vorabend des „Tags des Bodens“, dem weltweiten Tag des Protestes gegen die Besatzung.

Der „Tag des Bodens“ ist der Jahrestag eines Ereignisses, das 1976 als Protest gegen die Entscheidung der israelischen Regierung stattfand, große Teile von arabischem Land in Galiläa und andern Teilen Israels zu enteignen. Die Armee  und Polizei Israels schossen auf die Demonstranten und töteten sechs von ihnen. (Am Tag danach legten zwei meiner Freunde und ich Kränze auf die Gräber der Opfer – eine Handlung, die mir einen derartigen Ausbruch von Hass und Diffamierung einbrachte, wie ich es selten erfahren habe.)

Der Tag des Bodens war ein Wendepunkt für Israels arabische Bürger, und später wurde es ein Symbol für alle Araber überall. In diesem Jahr drohte die Netanjahu-Regierung, auf jeden zu schießen, der sich nur den Grenzen nähere. Es könnte ein Auslöser für die 3. Intifada sein, die von Marwan verlangt wird.

Seit einiger Zeit hat die Welt gegenüber Palästina ihr Interesse großenteils verloren. Alles scheint ruhig. Netanyahu ist es gelungen, die Aufmerksamkeit der Welt von Palästina auf den Iran zu lenken. Aber in diesem Land steht nichts still. Während es so aussieht, als geschähe nichts, wachsen die Siedlungen unaufhörlich. Und so wächst der Groll der Palästinenser, die dies mit eigenen Augen sehen.

Marwan Bargouthis Manifest drückt das beinah einmütige Gefühl der Palästinenser in der Westbank und anderswo aus. Wie Nelson Mandela in der Apartheid Südafrika kann der Mann im Gefängnis bedeutender sein als die Führer außerhalb.

Aus dem Englischen von Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.

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